Die Kunst der Vorstellung
Über das Bild hinaus. Wenn es eine Idee der Moderne gibt, dann ist es die der Emanzipation:
Emanzipation von dem Dogma der Realitätswiedergabe und der Gegenständlichkeit. Sie ist aber
auch die Geschichte der Emanzipation des Bildes selbst. Von dem ersten 3D-Film 1915 im New
Yorker Kino Astor über Lucio Fontanas Schnitt in die Leinwand, von Günter Ueckers Nagelbildern
bis zu Ellsworth Kellys Totempfählen reicht die Geschichte der Versuche, seine Grenzen zu
überwinden. In Nicola Stäglichs Kunst gewinnt dieser Prozess neuerlich Gestalt. Dabei eröffnet sie
der Kunst neues Terrain und dem Betrachter eine andere Dimension der Wahrnehmung.
Das Interesse am Raum stand schon am Beginn einer Suchbewegung. 2002 überführt Stäglich die
Eindrücke eines Aufenthalts in Markha Valley in der nordindischen Provinz in abstrakte Malerei.
Durch die sich überlagernden Farbfelder entsteht der Eindruck einer räumlichen Tiefe, eines Davor
und Dahinter im zweidimensionalen Bild. Den Weg in den Raum lotet sie aber auch mit
Wandmalerei aus – diagonal übereinander gelegte Farbbahnen, die über die Ränder des
Bildträgers hinausgehen und in den umgebenden architektonischen Raum ausgreifen.
In ihrer Serie „Transparencies“ aus den Jahren 2004/2005 geht sie bei ihrem Versuch, Farbräume
physisch werden zu lassen, noch einen Schritt weiter. In diesen Werken, die während eines
Studienaufenthaltes in der Bergregion Olevano im mittelitalienischen Latium entstanden,
überlagern sich horizontale und vertikale Pinselbahnen. Sie sind ebenso ein Versuch, die
Erfahrung des Raums mehr als nur zweidimensional zu verarbeiten wie die Quadrate aus
Plexiglas, auf deren Rückseite sie Ölfarbe aufträgt. Der Lichteinfall auf die mit Abstand zur Wand
montierte Scheibe lässt einen virtuellen Raum entstehen, in dem sich die Schatten der Farbstreifen
in gleichsam immaterielle Skulpturen verwandelten.
Warum interessiert sich eine Malerin für die Skulptur? Für den Bildhauer Henri Laurens beginnt
„ein Maler mit der Bildhauerei, weil er neugierig ist zu sehen, was sich wirklich hinter seinem
Gemälde abspielt." Laurens’ Dahinter ist bei Stäglich nicht im Wortsinne, sondern metaphorisch zu
verstehen: als Selbstüberschreitung des Bildes. Das zeigt ihre neueste Werkserie „neon, dux und
comes“. Denn die Reliefs, Skulpturen und Wandobjekte erkunden nicht das Dahinter des Bildes,
sondern entwickeln sich nach vorne in den Raum. Dabei verwandelt sich die Malerei zur Skulptur.
Und das Rechteck des Bildträgers selbst wird zum Steinbruch einer plastischen Formensprache.
Stäglich entwickelt ihr Projekt aus der Fläche heraus. Am Anfang steht das Leinwandbild. 2007
folgen Collagen, zu deren Umrissen und Struktur sie sich von der bizarren Geomorphologie
inspirieren lässt, die sie während eines Studienaufenthalts in den Canyons und Schluchten von
Arizona und Kalifornien erkundet. Sie ähneln einer Zeichnung im Raum. Ihr skulpturales
Eigenleben ist aber bereits so stark, dass von einem Bild nur noch bedingt gesprochen werden
kann. Dann geht sie zu Reliefs über - dem klassischen Bindeglied zwischen Malerei und Skulptur.
Bei deren nach außen gewölbten Oberflächen wird das Interesse unübersehbar, den Bildraum
auszuweiten, ohne ihn aufzugeben.
In ihren neuen Arbeiten nimmt Stäglich das kubistische Motiv der Zersplitterung von Figur und
Perspektive auf und wendet es auf den Bildträger selbst an: Sie kombiniert aus Holzplatten
ausgesägte und mit Farben überschüttete Ellipsen und Dreiecke auf einer zweiten Holzplatte. So
demonstriert sie seine Potenzialität zum Raum: Schon als Material trägt das Bild die Möglichkeit
des Raumes in sich, wird zu seinem Sinnbild. Mit ihren fast geometrischen Formen markiert die
neue Serie zugleich den Endpunkt eines fortlaufenden Abstraktionsprozesses.
Stäglich vollendet auf zeitgenössische Weise das, was der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler
das „Streben nach Erhöhung des plastischen Ausdrucks durch Zusammenarbeiten der beiden
Künste“ – Malerei und Skulptur - nannte. Bei ihr entsteht dieser Ausdruck aus der Positionierung
der aus dem Bild gewonnenen Elemente. Zwei Ellipsen werden spiegelverkehrt gegeneinander
gesetzt, überlappen sich. Oder die Ellipse steht gegen das Dreieck. Am Ende dieser Öffnung des
Bildes stehen die Elemente frei im Raum - als Skulptur. Die Herkunft aus dem Bild bleibt aber stets
erkennbar – es wird zitiert, dient aber immer auch als Basis des Werks.
Die facettierende Formensprache der Künstlerin orientiert sich dabei am Prinzip Bewegung -
Gegenbewegung, Hell - Dunkel, Subjektiv - Objektiv. Relationen und Eigenschaften des Materials
werden zum ästhetischen Erlebnis und generieren Bedeutung. Wie schon bei Rodins Skulptur
„Höllentor“ von 1926 oder den Bildern der Kubisten leitet sich die Wirkung des Objekts aus der
Struktur der Oberfläche ab. Das Licht und der Schatten, die an den Nahtstellen von Stäglichs
Elementen entstehen, werden zu eigenständigen Energien des Bildes, es entstehen simultane
Mehrsichtigkeiten. Stäglich steigert diese Raumwirkung noch durch den Einsatz der Farbe. Die in
fluoreszierendem Neongelb oder Schwarz bemalten Elemente steigern das Empfinden des
Dreidimensionalen. Der virtuelle Farbraum und der Realraum überlagern und potenzieren sich.
Die Strategien der Raumausweitung sind vielfältig: Gotthard Graubner überschreitet mit seinen
Kissenbildern nie eine bestimmte Grenze. Während Katharina Grosse ihn fast vollständig zu
entgrenzen sucht. Stäglich gibt ihren Raumbildungen immer einen Rahmen. Organische Elemente
wie die Farbschüttungen und die Struktur des Pinselstrichs kontrastieren mit den geometrischen
Formen der Elemente. Stets bleibt sie dabei der Fläche verpflichtet. Aus diesem komplexen
Zusammenspiel von Formverschiebungen und Farbentscheidungen entsteht eine zeitgenössische
Variante dessen, was Alexander Archipenko zu Beginn des 20. Jahrhunderts „Skulpto-Malerei“
nannte. An dieser Schnittstelle der Avantgarde arbeitet Nicola Stäglich.
Am deutlichsten ist diese Erweiterung in die dritte Dimension in den „Twists“ und „Cups“ -
kreisrunden Wandobjekten, die wie die Spitze einer Spirale in den Raum ragen. Aus
zugeschnittenem Hartschaum gewonnen, gegeneinander gefaltet und auf Spannung gesetzt,
fungieren diese Zylinder zugleich als Metapher eines Fortschreitens des Verstehens, das nicht zu
einem Endpunkt führt, sondern sich endlos fortsetzt. Wie eine Rampe, die sich in einer
Kreisbewegung nach vorne in eine unbekannte Dimension schraubt: Die Moderne ist kein Zustand,
sondern eine (Denk-)Bewegung.
Indem sich Maler von Papier und Leinwand lösen und sich plastischen Werken widmen, kehrt die
alte Frage wieder, welche der beiden Künste die bedeutendere ist. Jahrhundertelang haben
Theoretiker über den Vorrang der Malerei gegenüber der Plastik gestritten und umgekehrt. Für den
Barockkünstler Bernini leitet sich letztere von Gott ab, weil er den Menschen aus der Erde geformt
habe, „wie ein Bildner“.
Stäglich schlägt sich in diesem Streit nicht auf die eine oder andere Seite. Denn sie kombiniert
Malerei und Skulptur zu einem Dritten, in dem malerische und plastische Eigenschaften
zusammen wirken. Ohne, dass das Bild aufgegeben wird. Dieses Dritte ist weder Symbol der
Suche nach einer Metaphysik ist, noch der bloße Nachvollzug einer für die Moderne typischen
Suchbewegung. Wenn Alberto Giacometti Recht hatte mit seiner Bemerkung, dass eine Skulptur
„kein Objekt, sondern eine Frage ist, die nie fertig, nie vollkommen sein kann“, dann stellt Stäglich
die Frage nach der Rolle und den Möglichkeiten der Kunst in einer Zeit, in der sich mit der
Digitalisierung unser Bild- und Wahrnehmungsraum radikal verändert.
Stäglichs jüngste Reliefs erinnern an die Phasen einer Mond- oder Sonnenfinsternis. Sie sind aber
keine lyrischen (Natur-)Abstraktionen. Vielmehr führt ihre Kunst kühl und unsentimental fort, was
der Kunsthistoriker Carl Einstein „Raumbildung“ genannt hat. Für den Betrachter wird sie
gleichwohl zu einer visuellen Herausforderung. Denn ihre komplexen Arbeiten evozieren eine
entwickelte Form der Wahrnehmung: die Befähigung des Sehens zum Dreidimensionalen. Aus der
für den Dichter Guillaume Apollinaire die „Kunst der Vorstellung“ ersteht. Ohne, dass dafür eine
3D-Brille nötig wäre.
Dass Stäglich Malerei und Skulptur zum Medium dieser Erfahrung macht, nicht den Film oder die
virtuellen Welten, macht die Bedeutung ihrer Kunst aus. Ihren besonderen Reiz gewinnt dieses
Projekt einer Öffnung des Bildes dadurch, dass sie es in einer präzise komponierten Dialektik aus
Entgrenzung und Ordnung präsentiert.
Ingo Arend